M. Braun u.a. (Hrsg): Gewalt im Mittelalter

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Titel
Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen.


Herausgeber
Braun, Manuel; Cornelia Herberichs
Erschienen
München 2005: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marcel Müller, Boswil

Die wesentliche Stärke des von Cornelia Herberichs und Manuel Braun herausgegebenen Bandes liegt in der Betonung der jeweiligen Spezifik von Gewalt in der Gegenwart und der Vergangenheit. Gewalt im Mittelalter setzt sich damit innovativ von der bisherigen Forschung ab. Bislang war die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt auch in der Mediävistik oft durch den Rückgriff auf anthropologische Konstanten geprägt, wie in Wolfgang Sofskys Gewaltsoziologie, oder durch diachrone Erklärungsmodelle, wie beispielsweise Norbert Elias mit seiner Zivilisationstheorie eines vorlegte. Ein nahezu zweck- und kontextenthobener Universalismus als vermeintlich Immergleiches, wie es eine biologistische Sichtweise suggeriert, läuft allerdings ständig Gefahr, Epochen-, Situations- aber auch Medienspezifisches ausser acht zu lassen. Auf der anderen Seite wurde Elias’ teleologisches Modell mit der von ihm postulierten ständig verfeinerten Affektkontrolle durch zahlreiche historische Studien (exemplarisch Gerd Schwerhoff oder Martin Dinges) und reale «RückfaÅNlle» der jüngeren Zeitgeschichte immer wieder in Frage gestellt. Die Durchsicht der jüngeren Forschung zur Frage der Gewalt im Mittelalter zeigt jedenfalls zwei jeweils mehr oder weniger dosiert auftretende Konstanten: das beinahe obligate Abarbeiten am martialisch-gewalttätigen Mittelalter und die Wirkmächtigkeit von Elias’ Zivilisationstheorie, unabhängig dem ihr zugemessenen Wert. Die Herausgeber hingegen verzichten auf ein entwicklungsgeschichtliches Modell und gehen stattdessen von der Historizität des Phänomens Gewalt aus. Ihr Interesse liegt, wie bereits angetönt, in der Spezifik der jeweiligen – hier mittelalterlichen – Gewalt-Praxis.

Eine weitere, generelle Schwierigkeit der Analyse von Gewalt ist schon im semantischen Wortfeld angelegt (potestas vs. violentia), das auf die enge Verquickung von Gewalt und Macht verweist. Um diesen vielschichtigen und in der Verwendung oft weiten Gewaltbegriff analytisch besser fassen zu können, schlagen die Herausgeber im einleitenden Kapitel – das einen bezüglich Inhalt und Kompaktheit ausgezeichneten Forschungsüberblick enthält – vor, ihre Untersuchung von Gewalt auf die Phänomene körperlich-physischer Gewalt und deren Repräsentation zu beschränken und den Gewaltbegriff so zu deflationieren. Ins Zentrum des Interesses treten demnach solche Vorgänge, die Menschen betreffen und eine körperliche Dimension besitzen. Dahinter steht die Beobachtung, dass materielle Körper bei kulturellen Konstruktionen (Imaginationen) als Ausgangsund Zielpunkt erscheinen. Diese in Texten und Bildern überlieferten Zeichen mittelalterlicher Gewalt sind eben nicht referenzenthoben, sondern auf den Körper und seine tatsächliche Erfahrung bezogen. Über diese Wechselwirkung wird so eine Rekonstruktion der semiotischen Beziehungsnetze möglich, welche von der Realität ausgehen und zugleich auf sie zurückwirken. Folgt man dieser Denkfigur, wird eine Quellen-Lektüre möglich, welche sich weder in poststrukturalistischer Dekonstruktion noch unreflektiertem Positivismus verliert. Dieser Mittelweg ist gerade im interdisziplinären Austausch zwischen literaturwissenschaftlichen und historischen Wissenschaften wichtig und wie der Sammelband zeigt auch fruchtbar. Der methodische Fokus erweist sich dabei als die tragende Klammer, indem die sich gegenseitig bedingende Wechselbeziehung von Realität und Repräsentation der rekonstruierten Gewaltpraktiken in den Aufsätzen ständig mitreflektiert wird. Nicht nur mittelalterliche Gewalt, sondern vielmehr deren mediale Repräsentationen erscheinen in den Untersuchungen als hochgradig funktionalisierte Mittel zur Sinnproduktion.

Das Spektrum der 18 interdisziplinär angelegten Beiträge reicht zeitlich vom sechsten bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, räumlich von verschiedenen europäischen Regionen bis in den Orient und fachlich von diversen Philologien, der Ethnologie und Judaistik über die Mittelalterarchäologie bis zur (Kunst-)Geschichte. Gemeinsam ist ihnen trotz der thematischen Vielfalt die Berücksichtigung der kommunikativen Aspekte und Konstellationen, welche die überlieferten Gewaltverhältnisse begleiten. Die Darstellung von Gewalt sowohl in Text als auch Bild ist nämlich von theatralen und rhetorischen Elementen durchzogen und wendet sich an ein mitbedachtes Publikum, d.h., die Kommunikationsebene von Gewalt muss in Untersuchungen einbezogen und mitreflektiert werden. Das Martyrium als Glaubensbewährung im Kampf vor dem Zuschauer Christus (Niklaus Largier) oder die in öffentlichen Aufführungen dargestellte Gewalt der französischen Farce (Jelle Koopmans) bedürfen ebenso der Inszenierung wie in der Realienkunde die Gebrauchsgegenstände, welche nur über die mediale Vermittlung durch Text- und Bildquellen als Instrumente der Gewalt nachgewiesen werden können (Werner Meyer).

Geradezu Rückkoppelungseffekte zwischen Realität und Repräsentation lassen sich in der Historiographie und Erinnerungskultur des Frühmittelalters beobachten. Der letztlich auf die Beobachtenden abzielende Wunsch, in die kollektive Erinnerung einzugehen, hat offenbar immer wieder Herrscher zu wahnwitzigen ‘Heldentaten’ getrieben (Thomas Scharff). Die von den mittelalterlichen Autoren überlieferten, in jährlichen Kriegszügen perpetuierten Siege sind aber – so Scharff – als zur Herrschaftslegitimation nötige göttliche Gnadenerweise zu deuten. Die Kriegführung ist so strukturelle Notwendigkeit und dient bei Erfolgen als Beleg für die Auserwähltheit des Königs und seiner Dynastie. Mit diesen, an komplexen Sachverhalten orientierten Analysen werden auch in der Gewalt-Forschung häufig anzutreffende Erzählmuster aufgebrochen, wie beispielsweise die Täter-Opfer-Dichotomie oder eben diejenige sozialer Funktionalität (sinnlose vs. Sinnvolle Gewalt), womit gerade komplexen Sachverhalten nicht beizukommen ist. So erscheinen hier die Protagonisten bäuerlicher Fehdeführung statt als ohnmächtige Opfer herrschaftlicher Gewalt überraschend als Akteure mit einem Repertoire an geregelten und ergebnisorientierten Konfliktformen (Christine Reinle). Auch die überlieferte Entmannung von über hundert der Münzverschlechterung beschuldigten englischen Münzmeistern wurde von den zeitgenössischen wie späteren Historiographen funktionalisiert. Sie nahmen das Vorgehen Heinrichs I. nicht als Gewaltexzess, sondern als Zeichen seiner Durchsetzungskraft und als wesentlicher Teil seiner guten Herrschaft wahr (Klaus van Eickels). Ebenso erfolgte bei Judenpogromen in der zeitgenössischen Wahrnehmung physische Gewalt als gerechtfertigte Sanktion gegen vermeintliche Täter. Weniger bekannt dürfte sein, dass in Texten des englischen Mittelalters Juden auch als ausschliessliche Opfer christlicher Gewalt dargestellt werden (Renate Bauer). Anders verfährt die Rhetorik jüdischer Klagelieder über die Verfolgungen von 1096. Im Hebräischen lassen sich subjektlose Sätze bilden, die es erlauben, die Täter aus der Memoria von Gewalttaten auszuschliessen und ausschliesslich der Opfer zu gedenken (Elisabeth Hollender). Zumindest auf diese Weise konnte den ‘Siegern’ die Deutungshoheit entzogen werden.

Wie stark dargestellte Gewalt auch in Bildquellen konstruierte, ästhetisch vermittelte Gewalt ist, dokumentiert der kunsthistorische Beitrag von Silke Tammen. Die Autorin weist anhand von Passions- und Martyriumsbildern auf die notwendige Berücksichtigung des Rezeptionskontextes und der innerbildlichen Rezeptionsanweisungen hin. Die Betrachtenden haben einerseits die Möglichkeit, bei Darstellungen der Hl. Barbara beispielsweise die im Bild ausgesparten Folgen der Martern mit eigenem Wissen beziehungsweise eigener Vorstellungskraft zu ergänzen. Andererseits laden innerbildliche Betrachterfiguren die ausserbildlichen Betrachter zur Identifikation mit ihren Emotionen und Handlungen ein. Überhaupt lassen die Darstellungen nicht selten ein vielgestaltiges Bemühen erkennen, den Rezipierenden die Chance zu geben, die ins Bild gesetzte Gewalt und ihren Sinn zu verstehen. Bilder spiegeln somit nicht einfach eine Betrachtermentalität und zielen trotz aller Drastik ebenso wenig auf die Erzeugung sprachlosen Grauens, auch wenn ihnen von theologisch-naturwissenschaftlichen Seh- und Bildtheorien eine eigene didaktische Gewalt beziehungsweise Wirkmacht auf ihr Publikum zugesprochen wurde.

Den Leserinnen und Lesern bietet sich insgesamt eine repräsentative Auswahl neuerer Ansätze der mediävistischen Forschung zum Thema Gewalt. So verschieden die in unterschiedlichen Disziplinen verankerten Beiträge thematisch erscheinen, so sind sie auf der methodischen Ebene insgesamt ein Plädoyer dafür, die Selbstreflexivität und die historischen Rezeptionskontexte der verschiedenen Quellen stärker als bislang üblich zu berücksichtigen. Medialisierte Gewalt benötigt ein Publikum, das die vermittelten Inhalte rezipieren und als sinnhaft wahrnehmen soll. Diese sich dabei gleichermassen der Realität und Imagination bedienende Strategie ist uns Menschen des sogenannten ‘Informationszeitalters’ durchaus geläufig und zeigt (einmal mehr) die Aktualität des hier dezidiert Historisierten.

Zitierweise:
Marcel Müller: Rezension zu: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. München, Wilhelm Fink Verlag, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 231-234.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 2, 2006, S. 231-234.

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